Als der Fußball laufen lernte - Teil 2: Vom wilden Spiel zum Sport der Gentlemen
Eine ganz neue Dimension bekam der Fußball mit dem Beginn der Frühindustrialisierung. In diesem Zusammenhang wird immer deutlicher, warum nur England respektive das Britische Königreich das Mutterland des Fußballs werden konnte. Die gesellschaftspolitische Sonderstellung der Insel innerhalb Europas spielte hier die entscheidende Rolle. Spätestens seit der „Glorious Revolution“ von 1688/89 nahm die Bedeutung der Krone ab und die Bedeutung des Finanzwesens zu. So wurden auch die bürgerlichen Rechte gestärkt und damit mehr oder weniger unfreiwillig die Grundlagen zur britischen Vorreiterrolle der kommenden Jahrhunderte gelegt. Auf Basis dieser wirtschaftlichen und politischen Entwicklung setzte schließlich die Industrialisierung ein.
Die sogenannten „Public Schools“, die zur Bildung des gehobenen Bürgertums gegründet worden waren, wurden alsbald von den immer reicher werdenden Eltern der Lernenden übernommen. Damit waren die Lehrer gewissermaßen finanziell abhängig und standen sozial unterhalb ihrer Schüler. Innerhalb der Schülerschaft wurde das sogenannte „Primaner-Fuchs-System“ eingeführt, welches, bestimmt durch Alter und physische Kraft, Herrschaft und Unterwerfung symbolisierte. Die Schüler nutzten nun das Fußballspiel zur Konstituierung ihrer eigenständigen Hierarchie. Diese Entwicklung wurde oft von den Eltern unterstützt, die hierin eine Erziehung zu Männlichkeit, Führertum und Unabhängigkeit sahen.
Im Zuge der Industrialisierung und der immer größeren Machtpartizipation des Bürgertums kam es zu einer Reform der Public Schools. Zum Pionier wurde dabei die Schule in Rugby. Leiter Thomas Arnold modifizierte das Primaner-Fuchs-System in ein geregeltes, indirektes Herrschaftssystem, das die Autorität der Lehrerschaft wiederherstellte, den Schülern gleichzeitig aber auch Freiheiten und Rechte garantierte. Den älteren Schülern wurde dabei gesteigerte Verantwortung übertragen. Diese übten über das Fußballspiel soziale Kontrolle und Disziplinierung aus. Außerdem diente es zur Persönlichkeitsentwicklung. Um das alles in geordnete Bahnen zu lenken, wurde der Sport strikter und formaler organisiert. Es wurden Regeln schriftlich festgelegt und gleichzeitig wurde ein höheres Maß an Selbstkontrolle erwartet. So begann der Fußball zivilisierter zu werden und einige wilde und brutale Züge zu verlieren.

Die Grundlagen zur Reglementierung des Fußballs waren also gelegt. Diese Entwicklung verstärkte sich ab den 1830er Jahren. An den englischen Schulen wurden quasi am Reißbrett zwei unterschiedliche Sportarten entwickelt. Denn die Spielordnungen unterschieden sich von Ort zu Ort immer mehr, je umfangreicher und detailreicher sie wurden. Der Effekt der Regeln war eindeutig eine immer größere Verharmlosung des Fußballs, sodass er schließlich nur noch als Scheinkampf daherkam. Dabei stand die mit bürgerlichen Normen und Werten korrespondierende Unterscheidung von illegitimer und legitimer Gewalt im Zentrum. Die Schüler sollten zu Selbstdisziplin (= Verzicht auf illegitime Gewalt) bei gleichzeitigem Durchsetzungsvermögen (= Anwendung legitimer Gewalt) erzogen werden.
Grundsätzlich gab es zwei Strömungen: Die eine, unter der Führung der Rugby School, achtete darauf, den ursprünglichen Charakter des Spiels nicht zu sehr zu verfälschen. Die zweite Strömung entwarf mehr oder weniger einen neuen Sport, der den Ausübenden nicht nur strengere, sondern oft auch kompliziertere Regularien auferlegte. Jede Schule hatte ihr eigenes Regelwerk und die Übergänge zwischen den beiden Strömungen waren zunächst fließend. Bedeutsam wurde in diesem Zusammenhang die Konkurrenzsituation zwischen den einzelnen Lehranstalten. Dabei galt grundsätzlich: je „aristokratischer“ die Schule, desto strenger die Regeln. Denn höhere Standards dienten der Oberschicht zur Abgrenzung von der Mittelschicht. Das spiegelte sich in den „Cambridge Rules“ von 1848 wider, in denen dem Spiel mit dem Fuß der Vorzug gegenüber dem Spiel mit der Hand gegeben wurde.
An diesem Grundgedanken orientierten sich die Regeln, die 1849 die Public School von Eton erließ. Erstmals wurde in dieser Spielordnung das Handspiel komplett untersagt. Das unterstrich das Streben der Etonianer nach Exklusivität und, wenn man so will, nach zivilisatorischer Überlegenheit. Von nun an gab es also zwei Maßstäbe für die Fußball-Regelwerke der Schulen: Auf der einen Seite das stark reglementierte, auf Exklusivität ausgelegte der Eton School, auf der anderen das auf das Nötigste beschränkte der Rugby School. Mit der immer weiter greifenden Ausbreitung des Fußballsports stand dem ein Wunsch und eine Notwendigkeit der Vereinheitlichung gegenüber. Mit der Expansion der Mittelschichten, bedingt durch die fortschreitende Industrialisierung, Urbanisierung, Staatsbildung und Zivilisation, sowie dem Kult der Privatschulspiele wurde Fußball zunehmend eine statusrelevante Aktivität für erwachsene „Gentlemen“.

Von Andreas Arens