Als der Fußball laufen lernte - Teil 1: Die Wurzeln
Millionen von Menschen strömen jedes Wochenende in die Stadien, um ihre Helden zu bejubeln und beinahe genauso so viele betreiben diesen Sport mehr oder weniger regelmäßig aktiv – Fußball ist das Spiel der Massen. Und als ein solches Massenphänomen hat das Treibballspiel, aus dem sich der heutige Fußball entwickelte, eine lange Tradition. Insbesondere in England ließen sich die einfachen Bauern seit dem Mittelalter sogar von königlichen Verboten nicht von der Ausübung des Sportes abhalten.
Auch in anderen Ländern existierten zur gleichen Zeit – oder sogar früher – ähnliche Varianten des Spiels. Die heute noch geläufigsten waren „La Soule“ in Frankreich und „gioco del calcio“ in Italien. Diese beiden Formen waren, ebenso wie der „folk football“ (oder „village football“) auf den Britischen Inseln, sehr brutal und ähnelten insgesamt eher dem heutigen Rugby. Regeln gab es anfangs nicht, was immer wieder auch zu Todesopfern führte. Das war einer der Gründe, warum die Obrigkeit versuchte, diese Freizeitbeschäftigung mit Erlassen einzudämmen – ohne Erfolg. Es traten meist ganze Dörfer oder Stadtteile gegeneinander an. Das Ziel war es, einen wie auch immer gearteten Ball durch, beziehungsweise über, das gegnerische Stadttor zu befördern. War ein solches nicht vorhanden, dienten etwa Brunnen als „goal“. Dabei ging es häufig nicht um einen sportlichen Wettkampf, sondern oft nur um die Kanalisation von Gewalt.
In anderen Kulturen waren fußballähnliche Spiele schon vor Christi Geburt bekannt, allerdings meist weitaus reglementierter. Zwischen 200 v. Chr. bis 600 n. Chr. erlebte das „Cuju“ in China seine Blütezeit. Es wurden Regeln erlassen, ein mit Luft gefüllter Ball erfunden und vermutlich sogar eine Art Profiliga gegründet. Auch in Japan gab es ein Spiel namens „Kemari“, das sich mehr oder weniger auf das Hochhalten des Balles beschränkte. Spätestens um das Jahr 1000 waren die asiatischen Varianten aber wieder vollkommen in Vergessenheit geraten und hatten auch keinen Einfluss auf die Entwicklung des Fußballs in Europa.
Anders dürfte das bei Ballspielen aus dem Amerika der präkolumbianischen Zeit gewesen sein. Ihnen wird ein gewisser Effekt auf die italienischen, französischen und englischen Treibballspiele zugeschrieben. Diese hatten ihren Ursprung wohl im antiken Griechenland. Laut dem Philosophen Platon gab es ein Spiel namens „Sphairomachia“, was frei übersetzt so viel wie Kampf um den Ball bedeutet und zur militärischen Leibesertüchtigung genutzt wurde. Die Römer übernahmen diesen Sport wohl von den Spartanern und nannten es „Harpastum“. Auf diesem Weg kam das rauhe, rugbyähnliche Spiel nach Großbritannien und Frankreich.

Während sich im Italien des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit, unabhängig von der Entwicklung im Nordwesten Europas, nach und nach Regeln etablierten (etwa beim „calcio storico“ in Florenz), blieben die Spiele in Frankreich und England ein wildes und teilweise äußerst brutales Durcheinander. Weder Spielfeld noch Teilnehmerzahl waren begrenzt. Gespielt wurde an Feiertagen oder auf Hochzeiten und zwar meist im Winter, wenn es wenig Arbeit für die Bauern gab. Es diente zur Stiftung lokaler Identität, da meist benachbarte Orte gegeneinander antraten. Während die Adligen oft nur Missachtung dafür übrig hatten, wurden die Treibballspiele bei den Bauern bald zu einer Art Institution. Soziologisch wird diese damalige Freizeitbeschäftigung auch als Kanalisation lokaler und persönlicher Konflikte betrachtet. So gesehen war es Teil des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Zivilisationsprozesses.
Mit der unterschiedlichen sozialpolitischen Entwicklung trennten sich die Wege von La Soule in Frankreich und dem folk football in England alsbald. Während das ohnehin nur in bestimmten Regionen ausgeübte französische Spiel an Bedeutung verlor und im Absolutismus langsam von der Bildfläche verschwand, profitierte der Fußball in Großbritannien von den Freiheitsrechten der dortigen Bauern. Mit Unterstützung der bürgerlichen Großgrundbesitzer wurden königliche Verbote vorsätzlich missachtet. Als Konfliktbewältigung und als Teil der gesellschaftlichen Affektkontrolle erfüllte der Sport zudem einen sozialen Zweck.

Von Andreas Arens