Montag, 9. März 2015
Wer zur Hölle war...?...Walther Bensemann (Teil 1)
Walther Bensemann (*13.1.1873 in Berlin, +12.11.1934 in Montreux/Schweiz)

Was wäre aus dem deutschen Fußball ohne Walther Bensemann geworden? Vielleicht wäre Deutschland noch heute eine Turner-Nation, wenn Bensemann nicht so viel zur Popularisierung des Fußballs, insbesondere im süddeutschen Raum, beigetragen hätte.
Geboren wurde er im Berlin des deutschen Kaiserreiches als Sohn eines Bankiers mit jüdischem Glauben. Doch schon bald verschlug es Walther – eigentlich Walter, das „h“ fügte er später hinzu – und seine Familie gen Süden. Ab 1883 war er an einer englischen Privatschule im schweizerischen Montreux angemeldet. In der Schweiz war Association Football (wie der Fußballsport lange bezeichnet wurde, zur besseren Unterscheidung vom Rugby) genauso wie andere britische Sportarten, wie Cricket, Rugby oder etwas später auch der Bobsport, schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts populär. Das liegt vor allem in dem regen Geschäftsverkehr zwischen der Schweiz und dem britischen Königreich zu jener Zeit begründet. So wurden die Schweizer, neben den Niederländern und den Dänen, zu den ersten Pionieren des Fußballs auf dem Kontinent. Bis in die 20er Jahre waren Schweizer Fußballer noch sehr stark in der immer besser werdenden italienischen Liga beschäftigt und halfen so dem Fußball in einem Land auf die Beine, das kurze Zeit später den gesamten Kontinent in dieser Sportart dominieren sollte.
Im 19. Jahrhundert waren es aber immer noch viele eingewanderte Briten, die die Fußballclubs in der Schweiz prägten. Bereits im Jahre 1887, Walther war gerade 14 Jahre alt, gründete er mit Mitschülern seinen ersten von zahlreichen Fußballvereinen, den Footballclub Montreux, für den er, nach eigenen Angaben, auch als Sekretär tätig war. Kurz darauf verließ er mit seiner Familie die Schweiz und zog nach Karlsruhe, wo er seit September 1889 am Badisch-Großherzöglichen Lyzeum eingeschrieben war, das er 1892 mit dem Abitur in der Tasche verließ.
Schon bald nach seiner Ankunft in Karlsruhe suchte Bensemann nach Möglichkeiten seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Fußball-Spiel, zu frönen. Bis dahin war dieser Sport in Karlsruhe, wie im gesamten süddeutschen Raum, noch beinahe gänzlich unbekannt. Bensemann selbst berichtet, dass es vor seiner Ankunft gerade mal ein einziges Rugby-Spiel in Karlsruhe gegeben haben soll, das 1887 auf dem Exerzierplatz stattgefunden haben soll, der seitdem „Engländerplatz“ genannt wurde. Noch im September 1889 gründete Walther Bensemann dort den ersten Fußballverein Süd- deutschlands, den Karlsruher „International Footballclub“. Zunächst waren nur einige Gymnasiasten Mitglieder aber schon bald sollen 15 bis 20 Engländer beigetreten sein.

Bis zu diesem Zeitpunkt gab es sehr wenige Fußball-Clubs in Deutschland. Der erste war der „Dresden English Football Club“ 1874, der in den ersten zwanzig Jahren seiner Existenz weder ein Spiel, noch „ein Goal verloren“, also keinen Gegentreffer kassiert, haben soll. In den 1880er kam der Fußball in der Reichshauptstadt Berlin an, das sich schnell zum Zentrum der britischen Sportart entwickelte. Der wohl beste Berliner Club bis zum ersten Weltkrieg war die BTuFC Viktoria von 1889, der es auch als erster Mannschaft gelang die Dresdener zu besiegen. Bis 1890 gab es außer in Berlin nur noch in Hamburg relevante Vereinsgründungen (Germania 1887 und Hamburger FC 1888, die später zum Hamburger SV fusionierten).
Mit Hilfe von Walther Bensemann sollte sich dieses Bild in den kommenden Jahren etwas verschieben. Zwar blieb Berlin, insbesondere Dank einer Vielzahl von konkurrenzfähigen Clubs, das Herz des deutschen Fußballs, doch auch die neugegründeten Teams aus dem Südwesten konnten bald mit den besten Mannschaften des Landes mithalten.
Der zweite Verein, den Bensemann ins Leben rief war 1891 der Karlsruher Fußball-Verein, neben dem VfB Leipzig und der Berliner Viktoria der dominierende Fußball-Club in Deutschland bis zum ersten Weltkrieg. Nach internen Streitigkeiten beim I.F.C. trat Bensemann nur zwei Jahre nach dessen Gründung aus dem Verein aus und gründete einen neuen. Das erste „Lokalderby“ fand im Frühjahr 1892 statt, Bensemanns neuer KFV schlug seinen alten I.F.C. mit 1:0. Doch auch beim KFV, der 1893 bereits über 100 Mitglieder zählte, hielt es Bensemann nur kurz. Wiederum waren es interne Streitigkeiten, die Bensemann veranlassten seinen dritten Karlsruher Fußball-Club zu gründen. Dieses Mal nannte er ihn Karlsruher Kickers. Der Zusatz „Kickers“ sollte in der Folge zu Bensemanns Lieblingsbezeichnung werden und lebt auch heute noch in einigen süddeutschen Traditionsvereinen (z.B. Offenbach oder Stuttgart) weiter.
Die Karlsruher Kickers existierten zwar nur über einen Zeitraum von drei Jahren (1893 bis 1895), wurden in dieser Zeit aber zu einer legendären Fußball-Mannschaft und zum Vorbild zahlreicher süddeutscher Clubs. Bensemanns Anspruch, aus den Kickers die „Meistermannschaft“ des Kontinents zu formen, scheiterte vor allem an dem geringen Interesse internationaler Teams gegen die Karlsruher antreten zu wollen. Star der Kickers war Teenager Ivo Schricker aus Straßburg, das damals zum Deutschen Reich gehörte. Bensemann, der auch an der Gründung des Straßburger F.K. beteiligt gewesen war, lernte seinen späteren engen Vertrauten bei Besuchen im Elsaß kennen und gewann Schricker für seine Karlsruher Kickers. Wie andere Kickers spielte Schricker aber auch weiter für seinen Heimatverein und schoss beispielsweise beim 10:0-Sieg über den Karlsruher FV 1897 sieben Tore für sein Team.

Nach seinem Abitur 1892 begann Walther Bensemann mit dem Studium, das er allerdings in erster Linie zur Popularisierung des Fußballs nutzte. So blieb er auch nicht an einem Ort, sondern war wechselnd an den Universitäten von Lausanne, Straßburg, Freiburg und Marburg eingeschrieben. Dass er dabei sein Studium der englischen und französischen Philologie nicht besonders ernst nahm, unterstreicht der Verweis der Uni Freiburg von 1893, der ihm die Verführung von Schülern zu Fußball und Alkohol zu Last legt. Bensemann tingelte lieber durch süddeutsche Städte und war an zahlreichen Vereinsgründungen, insbesondere im Badischen und Hessischen, beteiligt.
Die Frankfurter Kickers sind dabei herauszuheben. Bensemann schnürte noch selbst die Stiefel für den Club, den er 1899 mitbegründet hatte. Am 9. Dezember 1900 erzielte er beispielsweise den Siegtreffer gegen die Hanauer Viktoria 1894. Eine Woche später gelang gar ein Sensationssieg über den Hanauer FC 1893, der zuvor jahrelang nicht mehr gegen ein Frankfurter Team verloren hatten. Fritz Becker von den Frankfurter Kickers gelangen im ersten offiziellen Länderspiel der DFB-Geschichte 1908 (3:5-Niederlage gegen die Schweiz) übrigens zwei Tore.
Nach mehreren Fusionen und Umbenennungen entstand aus den Frankfurter Kickers im Jahr 1920 die Frankfurter Eintracht. Auch bei der Gründung eines weiteren prominenten Vereins der heutigen Zeit hatte Walther Bensemann seine Finger im Spiel: In den Jahren 1897 und 1898 initiierte er eine Fußballabteilung beim MTV München, die sich im Jahr 1900 aus dem Hauptverein herauslöste und fortan unter dem Namen „Bayern München“ firmierte.
Bis zur Jahrhundertwende stand Bensemann regelmäßig selbst für seine Vereine auf dem Spielfeld, danach zwangen ihn Geldsorgen zur Ergreifung des Lehrerberufs, den er vor allem nutzte, um seine Schüler im Fußball zu unterrichten. Schon zuvor hatte er damit begonnen, Fußball-Artikel für Lokalzeitungen zu verfassen, die allerdings nur selten gedruckt wurden. Seine erste Sportlehrer-Stelle trat er in der Schweiz an, schon 1901 zog es ihn weiter nach Großbritannien. Zunächst war er als Präfekt und Lehrer für neue Sprachen an der schottischen Dollar Acadamy tätig, anschließend am Denstone-College in Staffordshire und an weiteren Schulen ehe er ab 1910 an der Birkenhead School in Liverpool – unter anderem als Sportlehrer – arbeitete.

Autor: Andreas Arens.



Wer zur Hölle war...?...Walther Bensemann (Teil 2)
Bensemann schien in England heimisch geworden zu sein, nur noch selten besuchte er alte Bekannte in seinem Geburtsland. Ausgerechnet im Sommer 1914 hielt er sich aber in Deutschland auf, als – für ihn unerwartet – der erste Weltkrieg ausbrach. Dieser verhinderte eine Rückkehr auf die britischen Inseln und ließ Bensemann endgültig zum Pazifisten und Anti-Nationalisten werden. „Auf den Geburtsort eines Menschen kommt es so wenig an, wie auf den Punkt, von wo er in den Hades fährt,“ notierte er 1920 in Erinnerung an den Krieg.
Walther Bensemann erkannte früh eine gesellschaftliche Funktion im Fußball-Sport, wie seine Zeitungsartikel über die deutsch-englischen Fußballbeziehungen (1909 in der „Illustrierten Sportzeitung“) oder die soziale Rolle des Fußballs in England (1910 in der Schweizer „Sport“ erschienen) belegen. Seine journalistische Ader gewann nach seiner Rückkehr nach Deutschland auch endgültig die Oberhand und veranlasste ihn schließlich zur Gründung einer eigenen Fußball-Fachzeitschrift, die unter dem Namen „Kicker“ im Jahr 1920 erstmals erschien.
Der Beginn der journalistischen Tätigkeit war für Bensemann von enormen Schwierigkeiten geprägt. Nach mehreren, finanziell bedingten, Umzügen fand der „Kicker“ im Jahr 1926 seine endgültige Heimat in Nürnberg, wo er auch heute noch erscheint. Trotz Bensemanns teilweise kritischen – insbesondere gegenüber dem eigenen Verband (den DFB hatte er 1900 ebenfalls mitbegründet) - oder gar polemischen Leitartikeln, die er selbst „Glossen“ nannte konnte sich das Fachmagazin gegenüber der Konkurrenz etablieren, blieb während Bensemanns Zeit aber eines von vielen Fußball-Journalen. Erst seine Nachfolger, die den Stil des „Kicker“ dem Mainstream anpassten, machten die Zeitschrift zu dem auflagenstärksten deutschen Sportmagazin.

Bis zur Machtergreifung der Nazis 1933 blieb Walther Bensemann in Nürnberg, ehe er nach Montreux emigrierte. Hier, wo seine Leidenschaft für den Fußball entfacht worden war, den er bald zu seinem Lebensinhalt machte, verstarb Bensemann 1934 unbeachtet von der deutschen Öffentlichkeit. Vereinzelt wurde im Nachkriegsdeutschland der Versuch unternommen, Bensemanns Verdienste um den deutschen Fußball zu würdigen, auf großes Interesse, auch seitens des DFB, stießen sie nicht. Immerhin verleiht die „Deutsche Akademie für Fußball-Kultur“ aber seit 2006 den Walther-Bensemann-Preis für ein fußballerisches Engagement zu Gunsten der Völkerverständigung. Denn als diese verstand Bensemann seinen Sport von Beginn an, wie schon der Name seines ersten Karlsruher Clubs („International“) beweist.
In seinen Glossen und Kommentaren bezog Bensemann immer wieder dezidiert Stellung und sparte nicht an Kritik am nationalen Kleingeist der Deutschen. Dass er kein Blatt vor den Mund nahm, machte ihn zu einem durchaus unbequemen Zeitgenossen. Wiederholte Streitigkeiten mit Vereinsgenossen und häufige Wohnortswechsel waren die Folge. Doch egal wo er war, Bensemann schaffte es überall eine Unmenge an Jugendlichen für den Fußball zu begeistern. Er verstand seinen Pioniergeist beinahe missionarisch und propagierte dabei auch immer wieder die Internationalität seines Sports. Legt man sein erfolgreiches Wirken zu Grunde, muss Bensemann über ein unglaubliches Charisma verfügt haben, dass vor allem junge Akademiker animiert hat, seinem Beispiel zu folgen. Neben diesen ausgeprägten Charaktereigenschaften bewies er in den 1890er Jahren auch sein fußballerisches Talent auf dem Spielfeld und galt als einer der spielprägendsten Figuren jener Zeit in Deutschland (außerhalb von Berlin).
Er trat auch immer wieder als Scout, Manager und Trainer in Erscheinung, wenn er junge Talente entdeckte und diese zu seinem jeweiligen Spitzenteam lotste. So spielte er mit anderen Pionieren des deutschen Fußballs wie Gus Manning oder Ivo Schricker zusammen, die später, beeinflusst von Bensemann, auch als Sportfunktionäre von sich reden machten.

Weit mehr als seine Taten auf dem Spielfeld, machten ihn seine Leistungen für den Fußball abseits des Balles unsterblich. Walther Bensemann kann man mit Recht als „Gründungsvater“ des deutschen Vereinsfußballs bezeichnen. Zahllose Clubs im süddeutschen Raum rief er ins Leben, viele stellten, zumindest kurzzeitig, ein Spitzenteam. Auch bei Verbandsgründungen hatte Bensemann seine Finger im Spiel, zunächst auf regionaler Ebene (Südwestdeutschland). 1900 nahm er als Vertreter von insgesamt sechs Karlsruher und Mannheimer Vereinen an der Gründungsversammlung des Deutschen Fußball Bundes teil.
Damit war Bensemanns Engagement auf dieser Ebene beendet. Im Gegensatz zu Gus Manning oder dem engen Vertrauten Ivo Schricker, der später erster Generalsekretär der FIFA wurde, bewarb er sich nie für einen Funktionärsposten. Stattdessen musste Bensemann sich zunächst um seinen Unterhalt kümmern. Eher ungewollt, nämlich auch durch den Ausbruch des ersten Weltkrieges bedingt, beendete er die Phase als Lehrer in Großbritannien um im journalistischen Bereich tätig zu werden. Dass er mit dem „Kicker“ eines der mittlerweile angesehensten Sportblätter der Welt gründete ist erstaunlich, wenn man sein äußerst geringes Startkapital und die fehlende Erfahrung in diesem Bereich berücksichtigt.
Fachlich war der „Kicker“ aber auch schon zu Bensemanns Zeiten über alle Zweifel erhaben. Dank seines umfangreichen Netzwerkes verfügte er beispielsweise schon damals über profunde Auslands-„Korrespondenten“, deren Spielberichte der Zeitung ein ganz eigenes Profil bescherten.
Der Name „Kicker“ scheint für Bensemann so etwas wie ein Kosewort für seine große Liebe Fußball gewesen zu sein. Nicht nur sein Magazin nannte er so, auch eine Großzahl seiner Vereinsgründungen trugen den Beinamen „Kickers“, der die Internationalität seines Sportes widerspiegeln sollte – insbesondere im Gegensatz zum „deutschen“ Turnen.
Denn das war der Sport, der von der deutsch-national gesinnten Öffentlichkeit propagiert wurde, während Fußball als „englische Modetorheit“ (noch einer der harmloseren Begriffe) diffamiert wurde. So ist Bensemanns Karlsruher Spitzname „Engländer in Narrentracht“ weniger als augenzwinkernder Seitenhieb, sondern tatsächlich als handfeste Beleidigung zu verstehen. Bensemann ließ sich von solchem Leumund allerdings nicht beeinflussen und stellte immer wieder auch die sozialpolitische Aufgabe des Fußballs heraus, den er dazu im Stande sah, den „klaffenden Gegensatz der Stände“ zu mildern und dem er attestierte „die Begriffe der Freiheit, der Toleranz, der Gerechtigkeit im inneren Sportleben, des Nationalgefühls ohne chauvinistischen Beigeschmack dem Auslande gegenüber zu wahren.“
Diese Aussagen tätigte Bensemann übrigens im Jahre 1900, also im selben Jahr, als auch der DFB sich konstituierte. Heute würde man die Sätze Bensemanns dort sicherlich unterschreiben, Zeit seines Lebens galt er dem Deutschen Fußball Bund aber als Quälgeist, der immer wieder den Finger in die Wunde legte. Das entsprach einfach seinem Charakter, den Zeitgenossen mit den Attributen Sprachgewandtheit, charmante Großspurigkeit, Streitlust und Tatendrang beschrieben. Kritisiert wurde Bensemann immer wieder für seine ausschweifenden Feierlichkeiten und seinen allzu lockeren Umgang mit Geld. In Erinnerung sollte Walther Bensemann aber als Pionier einer Idee des Fußballs als Mittel zur Völkerverständigung bleiben, die er 1930 im „Kicker“ nochmal herausstellte: „Der Sport ist eine Religion, ist vielleicht heute das einzige wahre Verbindungsmittel der Völker und Klassen.“

Autor: Andreas Arens.



Dienstag, 17. Februar 2015
Wer zur Hölle ist...? ...Tommy Ingebrigtsen (Teil 1)
Tommy Ingebrigtsen (*08.08.1977 in Trondheim, Norwegen)
Er war nie ein Überflieger der Skisprung-Szene, aber – wenn man so will – dennoch bekannt wie einen bunter Hund. Denn mit seinem wehenden Zopf und der x-förmigen Anlaufposition war er ein außergewöhlicher Charakter.

Ingebrigtsens Karriere begann ziemlich vielversprechend. In der Saison 1993/94 kam er als 16-jähriger zu seinen ersten Weltcupeinsätzen und -punkten. 1994/95 erreichte er zwar keine Punkte-Platzierungen, dafür wurde er aber Anfang März 1995 Junioren-Weltmeister im schwedischen Gällivare. Dieser Sieg kam einigermaßen überraschend, verwies er doch den Gesamtweltcup-14. jener Saison und Sieger von Oberstdorf, Reinhard Schwarzenberger, auf den zweiten Rang. Nur auf Grund dieses Erfolges wurde Ingebrigtsen von den norwegischen Trainern für die nordische Ski-WM im kanadischen Thunder Bay nominiert. Im Wettbewerb von der Großschanze am 18. März ging er als einer der scheinbar chancenlosen Außenseiter an den Start. Doch bereits nach dem ersten Durchgang lag er vor Skisprung-Größen wie Andreas Goldberger oder Jens Weißflog in Führung. Im zweiten Durchgang gelang ihm dann wohl der Sprung seines Lebens auf 137 Meter, was 9 Meter (!) mehr als der Schanzenrekord von Goldberger waren. Damit verwies er den Österreicher mit 13 Punkten Vorsprung und Weißflog mit noch viel größerem Abstand auf die weiteren Plätze. Diese Leistung wurde in seinem Heimatland so hoch eingeschätzt, dass er 1995 die traditionsreiche Morgenbladet-Goldmedaille als Norwegens Sportler des Jahres überreicht bekam.

In der Folge konnte Ingebrigtsen aber das Talent, das er als 17-jähriger angedeutet hatte, nie wirklich auf die Schanze bringen. In den drei Saisons nach dem Weltmeistertitel belegte Ingebrigtsen die Ränge 57 und zweimal 48 im Gesamtweltcup. Erst 1998/99 konnte er sich erstmals konstant in den Top-10 platzieren und erreichte mit 512 Punkten den elften Rang in der Gesamtwertung. Am 16.1.1999 feierte er im polnischen Zakopane als Dritter seinen ersten Podestplatz im Weltcup. Es sollte der einzige in jenem Jahr bleiben. Zum Saisonabschluss in Planica gelang ihm dafür Außergewöhnliches: Nachdem der damals dominierende Skispringer, Martin Schmitt, bei seinem Sieg am 19. März mit 214,5 Metern einen neuen Skiflugweltrekord aufgestellt hatte, zeigte Ingebrigtsen einen Tag später, wo seine Stärken lagen - nämlich in der Luft. Das „Schleichen“ entlang des Hanges – auf Grund des schwachen Absprungs – war sein typischer Flugstil. Auf der damals größten Schanze der Welt, der Letalnica in Planica, kam das besonders zur Geltung. Ingebrigtsen überflog am 20. März den Rekord von Schmitt um 5 Meter und steigerte ihn somit auf 219,5 Meter.
Im Sommer 1999 bestätigte er diese Form mit dem neunten Gesamtplatz in der Grand Prix-Wertung. Auch 1999/2000 zeigte Ingebrigtsen ansprechende Leistungen und feierte mit einem zweiten Rang in Iron Mountain die beste Weltcup-Platzierung seiner Karriere. Am Ende standen 494 Punkte zu Buche, was Platz 13 im Gesamtweltcup bedeutete. Noch besser lief es in seiner Spezialdisziplin, dem Skifliegen. Im Skiflug-Weltcup belegte er am Ende den dritten Rang. Die Podiumsplatzierung in Bad Mitterndorf und die allgemein gute Form machten ihn zum Mitfavoriten für die Skiflug-Weltmeisterschaft 2000 im norwegischen Vikersund. Sie ging als die vielleicht chaotischste Veranstaltung dieser Art in die Geschichte ein. Weder am Samstag noch am Sonntag (die Skiflug-WM wird, im Gegensatz zu allen anderen Wettbewerben, in vier Wertungsdurchgängen an zwei Tagen entschieden) konnte ein Sprunglauf gewertet werden. Böige Winde, ein gebogener Schanzentisch, EDV-Probleme - an diesem Wochenende kam alles zusammen. Deshalb wurde die WM-Entscheidung auf Montag verschoben, wo nach 3 Durchgängen der Sieger gekürt werden sollte. Weltrekordhalter Ingebrigtsen zeigte sich vor heimischen Publikum zunächst nervös, steigerte sich aber von Flug zu Flug. Im letzten Durchgang erreichte er mit 187,9 Punkten das beste Ergebnis aller Wertungssprünge, in der Endabrechnung reichte das aber nicht mehr zu einer Medaille. Bronze hinter Weltmeister Sven Hannawald und Andi Widhölzl verpasste er als Vierter mit 4,5 Punkten Rückstand auf Janne Ahonen äußerst knapp.
Erfolgreich ging es im Sommer 2000 weiter. Erstmals seit Jahren konnte das norwegische Skisprung-Team wieder mit mannschaftlicher Geschlossenheit glänzen. Ingebrigtsen war als Achter (226 Punkte in acht Einzelspringen) im Grand Prix-Endstand bester seines Teams. Gleich zu Beginn des Winters 2000/01 bestätigte er diese Form. Als Schlussspringer der norwegischen Mannschaft sicherte er sich, gemeinsam mit Roar Ljökelsöy, Lasse Ottesen und Olav-Magne Dönnem, seinen ersten Weltcupsieg. Es war der erste Teamerfolg für Norwegen nach langer Zeit. Im weiteren Verlauf der Saison platzierte sich Ingebrigtsen wieder konstant in den Top-10, schaffte den Sprung aufs Podium aber nicht – bis zum letzten Springen in Planica. Auf seiner Lieblingsschanze in Slowenien flog er als Dritter endlich aufs Podest. In der Skiflug-Wertung kletterte er so noch auf Rang fünf, im Gesamtweltcup wurde er wieder Elfter.

Ausgerechnet in der Olympiasaison 2001/02 verlor Tommy Ingebrigtsen seine Form. So konstant gut wie in den Jahren 1999 bis 2001 sollte er auch nie wieder werden. Seine Glanzzeit hatte er also in exakt denselben Jahren wie Martin Schmitt. Im Gegensatz zum Deutschen, der 2002 noch vorne mitsprang, verlief die Olympiasaison für Ingebrigtsen und das gesamte norwegische Team desaströs. Bei Olympia erreichten die Skandinavier nicht mal den zweiten Durchgang des Teamspringens. Der beste Norweger im Gesamtweltcup war am Ende Roar Ljökelsöy als 35. (!); da war Ingebrigtsen mit seinem 43. Gesamtplatz gar nicht so weit von entfernt. Nur bei der Skiflug-WM im tschechischen Harrachov konnte Ingebrigtsen ansatzweise überzeugen. Als 14. wurde er erneut bester Norweger.
Nach diesem Katastrophenjahr übernahm der Finne Mika Kojonkoski das Traineramt in Norwegen. Er führte die Skandinavier in den nächsten Jahren zu beeindruckenden Erfolgen, leider war Ingebrigtsen aber nicht mehr die Nummer 1 im Team. Roar Ljökelsöy, Sigurd Pettersen und Björn-Einar Romören zogen schon in der Saison 2002/03 klar an ihm vorbei; im Gesamtweltcup erreichte er mit 150 Punkten nur den 35. Rang. Auf Grund der vorangegangenen Jahre wurde Ingebrigtsen von Kojonkoski trotzdem für die nordische Ski-WM 2003 im Val di Fiemme nominiert. Und das zahlte sich für beide Seiten aus: Im Einzel von der Großschanze wurde Ingebrigtsen überraschend Vierter. Damit verdrängte er Roar Ljökelsöy aus dem Team, das einen Tag später mit Ingebrigtsen, Romören, Pettersen und Lars Bystöl die Bronzemedaille ersprang. Anschließend wurde Tommy Ingebrigtsen auch für den Wettbewerb von der Normalschanze nominiert. Diese lag ihm eigentlich überhaupt nicht, denn an Absprungkraft, die auf der Normalschanze elementar ist, mangelte es ihm Zeit seiner Karriere. Um so überraschender war seine Performance. Ingebrigtsen musste sich nur dem überragenden Adam Malysz geschlagen geben und holte sich die Silbermedaille. Insgesamt war Ingebrigtsen hinter Malysz und Noriaki Kasai der drittbeste Springer der Titelkämpfe 2003. Mit den beiden Medaillen komplettierte er zudem seinen WM-Medaillensatz (nach dem sensationellen Einzel-Gold 1995).

Autor: Andreas Arens



Wer zur Hölle ist...? ...Tommy Ingebrigtsen (Teil 2)
Die Saison 2003/04 verlief für Tommy Ingebrigtsen nochmal sehr erfolgreich. In einem überragenden norwegischen Team, das die Nationenwertung mit 1000 Punkten Vorsprung auf Finnland gewann (deren 4000 Punkte allein zu Hälfte von Janne Ahonen und Matti Hautamäki ersprungen wurden), stach er allerdings nicht heraus. Vierschanzentournee-Sieger Sigurd Pettersen, Skiflug-Weltmeister Roar Ljökelsöy – der den Gesamtweltcupsieg nur um 10 Pünktchen verpasste – und Björn-Einar Romören gewannen insgesamt 13 von 23 Einzelspringen, Ljökelsöy allein sieben. Ingebrigtsen konnte lediglich eine Podestplatzierung feiern (Dritter von der Olympiaschanze in Park Ciy) – seine letzte in einem Einzelspringen. Er siegte aber mit den drei oben erwähnten Mannschaftskollegen in beiden Teamspringen der Saison. Konstant gute Leistungen – wie in den Jahren 1999 bis 2001 – bescherten Ingebrigtsen 526 Punkte (Karrierebestwert) und damit wiederum Platz 11 im Gesamtweltcup. So reiste er – wie schon 4 Jahre zuvor – als Mitfavorit zur Skiflug-WM, die dieses Mal auf seiner Lieblingsschanze in Planica stattfand. Mit seinem ersten Flug schockte Ingebrigtsen die Konkurrenz; bei geringem Anlauf schaffte er 204,5 Meter. Damit lag er nach dem ersten Durchgang in Führung. Diese vergab er aber mit einem schwachen zweiten Sprung, der ihn auf den fünften Rang zurückfallen ließ. Trotz guter Flüge am zweiten Tag verpasste Ingebrigtsen die Bronzemedaille wieder sehr knapp und wurde Fünfter – 5,8 Punkte hinter dem Dritten. Selbstverständlich wurde Ingebrigtsen gemeinsam mit Romören (6.), Pettersen (9.) und Einzel-Weltmeister Roar Ljökelsöy für den Team-Wettkampf nominiert, in dem man Finnland (mit den Medaillengwinnern Ahonen und Tami Kiuru sowie den siebt- und achtplatzierten Matti Hautamäki und Veli-Matti Lindström) auf den zweiten Platz verwies. Im ersten Teamwettbewerb bei einer Skiflug-WM überhaupt gewann Norwegen mit Ingebrigtsen also Gold. Dieses norwegische Skiflug-Team gilt als das vielleicht beste aller Zeiten: Ingebrigtsen und Romören waren über einen längeren Zeitraum Weltrekordhalter, Roar Ljökelsöy wurde 2004 und 2006 Skiflug-Weltmeister und Sigurd Pettersen gewann in jener Saison die Vierschanzentournee.
Am Ende der Saison, 2004 war es das sogenannte Nordic Tournament, dominierte das norwegische Team nach Belieben, insbesondere Roar Ljökelsöy (2x1., 2x2. in vier Einzelspringen) und Björn-Einar Romören (2x1., 1x2., 1x3.), die in der Gesamtwertung die Plätze eins und zwei belegten. Ingebrigtsen verpasste als Gesamt-Fünfter (2x4., 1x7., 1x8.) hinter Simon Ammann und Janne Ahonen ein rein norwegisches Podium nur knapp.

In der Saison 2004/05 schaffte Tommy Ingebrigtsen sehr regelmäßig den Sprung in den zweiten Durchgang, die Top-Platzierungen blieben aber aus. Im Gesamtweltcup belegte er am Ende den 25. Rang und war damit nur sechstbester Norweger. Deshalb kam Ingebrigtsen bei der nordischen Ski-WM 2005 in Oberstdorf nicht zum Einsatz. Auch in den Teamspringen des Weltcups wurde Ingebrigtsen in diesem Jahr nicht berücksichtigt.
Anders sah das in seiner letzten Saison als A-Kader-Athlet, 2005/06, aus. In Lahti erreichte er gemeinsam mit Ljölelsöy, Romören und dem neuen Olympiasieger Lars Bystöl als Zweiter nochmal auf ein Weltcup-Podium. Obwohl er 2005/06 weniger Punkte sammelte als im Jahr zuvor und als 23. auch nur unwesentlich besser in der Endabrechnung des Weltcups platziert war, wurde er in jener Saison auch wieder bei den Großereignissen eingesetzt. Zunächst bei der Skiflug-WM in Bad Mitterndorf, wo er im Einzel Zwölfter wurde und damit seine Skiflug-Fähigkeiten erneut unter Beweis stellte; Landsmann Roar Ljökelsöy verteidigte seinen Titel. Zusammen mit Björn-Einar Romören und Lars Bystöl wollten Ljökelsöy und Ingebrigtsen Gleiches auch im Teamwettbewerb tun. Dieses Mal galt im Vorfeld zwar Österreich als Top-Favorit, im Wettkampf zeigten jedoch alle Norweger sehr starke Flüge und gewannen damit erneut – dieses Mal deutlich – Gold vor Finnland.
Nach diesem Erfolg wurde Ingebrigtsen auch mit zu den Olymischen Spielen 2006 nach Turin genommen. In den Einzelwettbewerben konnte er nicht auf sich aufmerksam machen, wurde aber dennoch, gemeinsam mit den anderen Skiflugweltmeistern, für das Teamspringen nominiert. Nach dem Olympiasieg von Lars Bystöl und zwei weiteren Einzelmedaillen durch Bystöl und Ljökelsöy galt Norwegen als (Mit-)Favorit. Am Ende wurde es zwar nicht das erhoffte Gold, aber Bronze bedeutete für Ingebrigtsen zum Abschluss seiner Karriere doch noch die ersehnte Olympia-Medaille. 2006/07 schaffte er den Sprung in den norwegischen A-Kader nicht mehr und trat nach der Saison zurück.

Obwohl Tommy Ingebrigtsen keinen Weltcupsieg im Einzel erringen konnte und dementsprechend auch nie unter den ersten zehn im Gesamtweltcup landete (er wurde dreimal Elfter), gewann er den Weltmeistertitel von der Großschanze (1995) und wurde Vizeweltmeister von der Normalschanze (2003). Seltsamerweise gelangen ihm diese Erfolge in eigentlich schwachen Weltcup-Saisons, während er in guten Jahren (1999 bis 2001 und 2004) eher Pech bei den Großereignissen hatte – insbesondere in seiner Spezialdisziplin, dem Skifliegen. Bei der WM 2000 und der WM 2004 verpasste er als Vierter und Fünfter eine Einzelmedaille denkbar knapp, jeweils um nur etwa fünf Punkte. Dafür werden seine 219,5 Meter vom 20. März 1999 für immer der weiteste Flug des 20. Jahrhunderts, gar des vorherigen Jahrtausends, bleiben. Exakt 6 Jahre später war Ingebrigtsen für einige Minuten nochmal Weltrekordler, bevor Björn-Einar Romören ihm diesen „Titel“ entriss. Ingebrigtsens 231 Meter vom 20. März 2005 in Planica, bleiben aber sein persönlicher Rekord.
Die beste Platzierung in der Gesamtwertung der Vierschanzentournee gelang ihm 2000/01 als Zehnter. Der vierte Rang in Innsbruck (hinter Malysz, Ahonen und Kasai) 2001 war zugleich das beste Tournee-Einzelergebnis. Besser lief es beim skandinavischen Pendant, dem Nordic Tournament. Hier verpasste er als Fünfter 2004 das Podest in der Gesamtwertung und in den Einzelspringen nur knapp. Dieses erreichte er dafür in der Spezialwertung des Skiflug-Weltcups (Dritter 1999/00). Ansonsten hielt sich Ingebrigtsen während seiner Weltcup-Karriere – zwischen 1993 und 2007 – meist fernab vom Podium auf. Lediglich fünf Podestplätze in 14 Jahren stehen in der Statistik: Dritter in Zakopane (1999) und bei den Skifliegen am Kulm (2000) und in Planica (2001). Hinzu kommen mit dem zweiten Platz in Iron Mountain (2000) und dem dritten in Park City (2004) zwei Top-Ergebnisse in den USA. Insbesondere das Resultat von Park City zeigte sein Potenzial auf der Olympiaschanze von 2002, doch leider war er ausgerechnet in jener Olympiasaison gar nicht in Form.
Die einzigen Weltcupsiege feierte Ingebrigtsen in Teamspringen. Insgesamt drei erreichte er in den Jahren 2001 und 2004. Hinzu kommen zwei zweite Ränge. Fast genauso viele Podiumsplätze mit der norwegischen Mannschaft erreichte er bei Großereignissen. Die ersten zwei Goldmedaillen bei Skiflug-Weltmeisterschaften überhaupt (2004 und 2006) holte sich Ingebrigtsen mit seinen Teamkollegen Roar Ljökelsöy, Björn-Einar Romören, Sigurd Pettersen (nur 2004) und Lars Bystöl (nur 2006). Außerdem komplettierte er mit Mannschafts-Bronze 2003 seinen Medaillensatz bei der nordischen Ski-WM und erreichte 2006 zum Abschluss seiner Karriere auch noch eine Olympiamedaille (ebenfalls Bronze).
Obwohl er sich nie zum Seriensieger und Star aufschwang bestimmte er in vielen Jahren das norwegische Skispringen – so wurde er insgesamt sechsmal nationaler Meister. Auf dem Zenit seiner Karriere zwischen 1999 und 2001 hätte ihm ein Top-Trainer, wie er ihn erst später mit Mika Kojonkoski bekam, vielleicht zu größeren Erfolgen geführt. Aber um das Jahr 2000 lag das norwegische Skispringen am Boden. Ingebrigtsen war zu jener Zeit der Einzige, der kleinere Erfolge für sich verbuchen konnte. Als das Team, vor allem Dank Kojonkoski, dann stärker wurde, war Ingebrigtsen bereits Mitte/Ende 20 und damit nicht mehr in der Lage sich großartig weiterentwickeln zu können. Sein Flugtalent reichte aber aus, um noch einige Medaillen mit einer dann sehr erfolgreichen norwegischen Mannschaft zu feiern.

Autor: Andreas Arens.

Für den 1. Teil von Ingebrigtsens sportlichen Werdegang unter Navigation auf Themen klicken. In der Rubrik Biographien gibt es den gesamten Text.